LUDWIG SCHÖNHERR: BILDERINFLATION
Eröffnung: 04.03.2022, 19 Uhr
Mitte der 1970er Jahre begann der Künstler Ludwig Schönherr (1935-2016), die Bilderflut seiner Zeit zu erforschen, die freilich nicht von den sozialen Medien, sondern vom Fernseher bestimmt wurde. Er kontaktierte Fernsehsender in den USA und in Deutschland und zog wissenschaftliche Analysen zurate, um Informationen über die Auswirkungen des Fernsehens auf die Zuschauer:innen und ihre Möglichkeiten der Bildung oder "Verblödung" einzuholen. Im Exposé zu seiner umfangreichen Fotoserie BILDERINFLATION (1978) stellt Schönherr fest: "Jeder Deutsche sitzt täglich 4 Stunden und 25 Minuten vor dem Fernseher, jeder Amerikaner 5 Stunden und 16 Minuten, jeder Japaner über 7 Stunden." Wie viele Bilder haben diese Fernsehzuschauer:innen pro Tag verarbeitet? Wie kann man einzelne Bilder in der ständigen Flut der Sendungen unterscheiden? Schönherr konzipierte ein geniales und ehrgeiziges Projekt der "strukturellen Fotografie". Ausgehend von musikalischen Strukturen fertigte er zwölf Partituren an, die als Grundlage für eine Fotoserie dienten, für die er ein Jahr lang jeden Tag über etwa viereinhalb Stunden einen Kleinbildfilm von Fernsehbildern aufnahm. Der Partitur folgenden wurden die Fotos so aufgenommen, dass sie in variablen Konstellationen mit monochromatische weiße Bilder, spezifische geometrische Strukturen im Raster eines Kontaktbogens aufbauten. Das Projekt führte er im Jahr 1978 365 Tage lang durch, wobei er seine Zeit zwischen Hamburg und New York City aufteilte. Obwohl Schönherr dieses Projekt nie in Form einer Ausstellung realisierte und zu Lebzeiten nur kleine Ausschnitte des Werks zeigte, hinterließ er zahlreiche Notizen, Diagramme und Konzeptpapiere, die den Produktionsprozess dokumentieren und seine Intentionen erkennen lassen. Die Organisator*innen dieser Ausstellung haben sich intensiv mit diesen Materialien auseinandergesetzt und Schönherrs Projekt für ein neues Installationsformat interpretiert. Neben den 365 Fotografien von BILDERINFLATION, die nach Schönherrs Vorgaben neu gedruckt wurden, präsentiert diese erste institutionelle Einzelausstellung des Künstlers auch Archivmaterial, darunter Partituren, visuelle Drehbücher und Konzeptpapiere, die die Forschungs- und Entwicklungsphase des Werks dokumentieren, sowie verwandte Arbeiten des Künstlers zum Thema Fernsehen. Diese Materialien werden in einen Dialog mit der Bedeutung von Farbe und farbigem Licht in Schönherrs Werken gestellt. Die Ausstellung verbindet darüber hinaus Zitate des Künstlers mit Kommentaren von Marc Siegel zu seinem Werk. In einer durch den scheinbar endlosen Strom digitaler Online-Bilder gekennzeichneten Zeit, ist Schönherrs BILDERINFLATION ein faszinierendes Beispiel einer künstlerischen Strategie, um ephemeren Bildern Struktur, Ordnung und Form zu verleihen, und sie als Objekte der Analyse und der ästhetischen Erfahrung zu gewinnen. Über die ästhetische Innovation des Künstlers hinaus, liefert BILDERINFLATION ein einzigartiges medien- und kunsthistorisches Archiv der Zeit.
Organisiert von Jonathan Berger, Susanne Sachsse und Marc Siegel, in Zusammenarbeit mit ZOOM – Ludwig Schönherr Labor (Berlin).